Geistige Enteignung und Ausbeutung

Ein Interview des Börsenblattes mit Bundespräsident Horst Köhler1 ist in mehrfacher Hinsicht
interessant. Eigentlich geht es in dem Interview um einen Vorlesewettbewerb, also um Lesen und Lesekompetenz.
Besonders interessant ist hierbei, wie Fragestellung und Antwort sich geschickt ergänzen. Stefan Hauck vom
Börsenblatt führt seine Frage mit der Bemerkung ein, dass im Internet Information meist kostenlos zur Verfügung
stehe, was bei Heranwachsenden dazu führe, dass sie nicht verstünden, warum sie für Inhalte Geld ausgeben
sollten. Dies ist eine unzulässige Verallgemeinerung, denn er erkennt der gesamten Gruppe der Heranwachsenden
Sachkompetenz bzgl. Geistigem Eigentum bzw. Copyright und Urheberrecht ab. Seine Frage an den Bundespräsidenten,
wie wichtig es sei, dass Autoren und Illustratoren für ihre Werke entlohnt würden, suggeriert nicht existierende
Strömungen, die darauf trachten, dass man Künstler nicht mehr entlohnen wolle.
Statt dass sich Bundespräsident Köhler, der ja
eigentlich Präsident aller Deutschen sein soll, in seiner Antwort zunächst einmal schützend hinter all die
Jugendlichen stellt, die keinen geistigen Diebstahl betreiben und sehr wohl die Grundlagen unseres Urheberrechtes
verstehen, lässt er Haucks Unterstellungen unwidersprochen. Stattdessen preist er das bestehende Urheberrecht mit
der Behauptung "Die Vorstellung vom armen Poeten gehört - dem Urheberrecht sei Dank - dem vorigen Jahrhundert an."
Damit meint er aber wohl sicherlich nicht das 20. Jahrhundert, denn in dem hatten wir ja schon durchgehend ein
Urheberrecht und dieses wurde sogar gegen Ende des Jahrhunderts noch deutlich zugunsten der Rechteverwerter verbessert.
Oder meinte er das 19. Jahrhundert, was bedeuten könnte, dass er noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen wäre.
Eigentlich kann er das aber auch nicht gemeint haben, denn das Urhheberrecht wurde ja bereits zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in Deutschland eingeführt. 1837 beschloss des Bundesversammlung des Deutschen Bundes eine Schutzfrist
von 10 Jahren seit Erscheinen des Werkes zu gewähren. Bereits 1845 wurde dies auf 30 Jahre nach dem Tode des Urhebers
(post mortem auctoris) verlängert. "Dem Entwurf des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aus dem Jahre 1857
folgend erließ der Norddeutsche Bund 1870 das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken,
Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken. Das Deutsche Reich übernahm dieses
Gesetz ein Jahr später. Es folgten das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste
und das Gesetz betreffend den Schutz der Photographien gegen unbefugte Nachahmung (beide 1876)."2
1857 wurde dann schließlich der allgemeine Urheberrechtsschutz vom
Norddeutschen Bund eingeführt, der dann 1871 vom Deutschen Reich übernommen wurde.
Aber egal welches Jahrhundert er meinte, stimmt es eigentlich, dass der arme Poet dem letzten oder vorletzten Jahrhundert
angehört. Wenn man an Bestsellerautoren denkt, hat er sicherlich recht. Aber wie erklärt man die Durchschnittseinkommen
in der "Künstler Sozialkasse". Zum 1.1.2009 - also in diesem Jahrhundert - kamen Schriftsteller und sonstige dem "Wort"
zugerechnete Mitglieder im Durchschnitt auf ein Jahreseinkommen von 16.232 Euro.3 Legt man eine 40 Stundenwoche zugrunde und
geht man von sechs Wochen Urlaub aus, dann kommt man auf den stolzen Stundenlohn von 8,82 Euro. Für Musiker sieht es übrigens
noch schlimmer aus. Sie verdienen nur 11.174 Euro im Jahr, also knapp mehr als 6 Euro pro Stunde.
"Denn das Urheberrecht schützt nicht nur den kulturellen Wert schöpferischer Leistung, sondern auch ihren materiellen
Wert.", fährt Köhler fort. Mit seiner "nicht nur"-"sondern auch"-Formulierung stellt Köhler die Intention des
Urheberrechtes auf den Kopf. Im Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) sucht man vergeblich nach den
Begriffen "Kultur" oder "kulturell", was man erwarten könnte, wenn Bundespräsident Köhler recht hätte. Es schützt auch
nicht den materiellen Wert eines Wertes. Der Wert eines Werkes bildet sich schließlich am Markt. Das Urheberrecht sichert
dem Urheber "lediglich" die Nutzungs- und Verwertungsrechte. Wie konnten all die Klassiker der Weltliteratur über Jahrhunderte
und Jahrtausende hinweg ihren "kulturellen Wert" erhalten, obwohl sie nie im Köhlerschen Sinne vom Urheberrecht geschützt
worden sind?
Apropos Klassiker und all die anderen Werke, die nicht unter Urheberrecht stehen oder unter Creative Commons. Haben wir
kein Anrecht darauf, diese kostenlos im Internet nutzen zu dürfen? Dachte er nicht an die, als er sagte: "Ich finde es
nicht gut, dass viele inzwischen durch die Möglichkeiten des Internet einen Anspruch auf kostenlose
Nutzung künstlerischer und geistiger Produktion zu haben glauben." Köhler scheut sich noch nicht einmal davor dem
marxisiten Sprachgebrauch zu verfallen, wenn er dieses von ihm behauptete Anspruchsdenken mit "geistiger Ausbeutung" und
geistiger "Enteignung" gleichsetzt. Die Lächerlichkeit dieser Argumentation wird einem bewusst, wenn man sich eine
Analogie aus dem konvenionellen Eigentumsrecht veranschaulicht. Nehmen wir an, ein Bauer glaubt einen berechtigetAnspruch auf ein
Stück Land seines Nachbarn zu haben. Inwieweit beutet er nun seinen Nachbarn durch dieses Anspruchsdenken aus? Wie kann man
jemanden durch Anspruchsdenken gar enteignen?
Bisher haben wir nur eine singuläre Äußerung Köhlers in einem Interview betrachtet. In anderen Reden sieht er aber durchaus
das Spannungsfeld, in dem das "Geistige Eigentum" steht. So beispielsweise in seiner "Festansprache aus Anlass der 175-Jahr-Feier
des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels" am 21.5.2000 in Leipzig:
"Derzeit gibt es international zwei unterschiedliche Interessenlagen, die auch bei den GATT-Verhandlungen deutlich geworden sind: Dem Recht auf geistigem Eigentum, dem sich der Börsenverein verpflichtet fühlt, steht das Interesse von Bibliotheken und Universitäten an ungehinderter Verbreitung allen verfügbaren Wissens gegenüber." 4Besser hätte er von dem allgemeinen Interesse an der ungehinderter Verbreitung allen verfügbaren Wissens gesprochen.
Dr. Verena Metze-Mangold, Vizepräsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, zitierte Köhler in Ihrem Grußwort zur "Jährlichen Tagung der der deutschen Welterbestätten":5
"Herausragenden kulturellen Zeugnisse - daran erinnerte Bundespräsident Horst Köhler in Paris - sind geistiges Eigentum aller Menschen und gehören nicht allein den Völkern und Staaten, auf deren Boden sie entstanden sind oder sich befinden. Je einzigartiger das Erbe, umso universeller seine Gültigkeit - ein Ansatz, der kulturelle Vielfalt mit Universalität verbindet."Wie verträgt sich das mit dem exklusiven Begriff "Geistiges Eigentum"?